Wanderausstellung und Film

Menschen am Fluss

Alte, neue, fremde Heimat an der Oder nach 1945

Der Zweite Weltkrieg (1939–1945) hinterlässt auch im unteren Odertal tiefe Spuren durch Terror, Leid und Zerstörung. Nach Kriegsende 1945 markiert die Oder hier die Grenze zwischen Deutschland und Polen. Sie wird zum Symbol des schwierigen Verhältnisses beider Länder. Dies spiegelt sich in der großen Weltpolitik wider, aber auch im Leben am Fluss: Auf der östlichen und auf der westlichen Seite der Oder kommen viele Menschen in dieser Gegend an, um eine neue Heimat zu finden. Polen und Deutsche müssen sich mit der neuen Situation arrangieren, sich einrichten in ihrer neuen Heimat. Doch auch in der Nachkriegszeit ist die Oder nicht einfach eine „natürliche“ Grenze, die Menschen nur voneinander trennt: Immer wieder wird der Fluss zur Verbindung, zur Brücke zwischen ihnen.

Ankommen nach 1945

Der Zweite Weltkrieg hinterlässt auch hier Schrecken und Ruinen. Besonders die Städte und Dörfer gleichen Trümmerwüsten: Bis zu 80 Prozent der Gebäude sind zerstört, viele Brücken über die Oder gesprengt. Auf beiden Seiten des Flusses kommen nach 1945 viele Menschen an, die hier nach einer neuen Heimat suchen. Auf der polnischen Seite treffen sie vielfach aus dem Osten Polens ein, der nun zur Sowjetunion gehört. Außerdem finden viele ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ihren Weg hierher. Deutsche finden auf der westlichen Seite der Oder ein neues Zuhause.

Der Fluss wird zur Grenze

1945 einigen sich die alliierten Siegermächte darauf, die Grenzlinie zwischen Deutschland und Polen entlang der Oder zu ziehen. Damit rückt die Grenze nach Westen. Gleichzeitig fallen Gebiete im Osten Polens an die Sowjetunion. Die sogenannte „Friedensgrenze“ wird von der DDR 1950 offiziell anerkannt, jedoch ist es ein langer Weg, bis die sozialistischen „Bruderstaaten“ tatsächlich zusammenfinden. Erst ab 1972 gibt es einen Grenzverkehr ohne Visum – und auch nur bis 1980. Doch bringt die Oder die Menschen trotzdem zusammen, beispielsweise bei gemeinsamen Einsätzen zur Eisbeseitigung.

Leben mit dem Vorgefundenen (ab 1949)

Das Leben der Menschen in den Nachkriegsjahren ist hart. Östlich der Oder werden die verlassenen Häuser und Höfe der ehemaligen deutschen Bevölkerung nun von polnischen Bewohnern bewirtschaftet. Zwangskollektivierung und Misswirtschaft führen bald zur Landflucht. Auch in Deutschland zieht es die Menschen in die Stadt. Schwedt entwickelt sich zu einer Industriestadt. Die Polderbewirtschaftung wird in der DDR beibehalten, auf polnischer Seite stellt man sie aufgrund der starken Kriegsschäden ein. Durch die Westverschiebung der Grenze gibt es keine gewachsene Identität in der Region. Die Oder trennt Leben und Alltag zwischen Ost und West voneinander.

Zeitzeugen

Edgar Kiesling
geboren am 7. November 1933 in Stresow (heute: Strzeszów, Polen); 1934 Umzug nach Jädersdorf im Kreis Greiffenhagen (heute: Strzelczyn, Polen); September 1945 Flucht aus Jädersdorf Wir kamen Ende September 1945 in Hohenwutzen über die Oder. Wir nahmen zwei Betten, eine Handtasche, Kleinigkeiten zum Anziehen und einen Eimer mit Schmalz mit. In Hohenwutzen ließen wir die Betten und liefen zu Fuß zu unserer Tante nach Vierraden. Drei Tage waren wir unterwegs – ich, meine Mutter, meine Großmutter und meine Zwillingsschwester. Hier fanden wir meinen Onkel und meine zwei Tanten. Hier starb im November meine Zwillingsschwester. Sie hatte Typhus und wurde geimpft. Der Typhus und das Serum haben gegeneinander gekämpft. Man hat alles versucht, aber sie hat nicht überlebt. Der Krieg war vorbei! Mit dem Beginn der Schule in Vierraden 1946 trat wieder Normalität ein. Wir hatten kein Heft, kein Buch, kein gar nichts. Es ist viel passiert! In den Trümmern wurde gespielt und Klamottenschlachten durchgeführt. Im Pionierpark fanden wir Munition. Wir holten das Schwarzpulver aus den Patronen und spielten damit. Heute weiß ich, in was für eine große Gefahr wir uns damit gebracht haben. Im Rahmen des kleinen Grenzverkehrs Anfang der 1970er-Jahre fuhren wir über Pomellen und Greifenhagen bis zu den Kräniger Bergen und dann nach Jädersdorf. Dann wurde die Grenze geöffnet. Wir haben mit den Polen, die nun dort wohnten Verbindung aufgenommen. Sie empfingen uns gleich. Sie sagten zu uns „Euch geht es genauso wie uns! Wir haben euch rausgeschmissen. Uns hat der Russe rausgeschmissen!" In der Folgezeit brachte ich oft Geschenke wie Weckgläser, Nähmaschine, Waschmaschine usw. nach Polen. Zum Dank bekam ich lebendige Enten, einen Korb voll Eier.

Herr Turkowski
Lech Turkowski geboren 1951 in Szczecin. Seine Eltern kamen 1945/46 aus Poznań nach Szczecin, wo sein Vater eine Elektro-Werkstatt gründete. Im Interview, das hier gekürzt und leicht überarbeitet wiedergegeben wird, erzählt er wie es dazu kam: Wir sind hier in Szczecin im Geschäft Lampy stylowe („Stilvolle Lampen“). Ich bin der Eigentümer dieses Betriebs. Meine Eltern kamen aus Poznań nach Szczecin. Zuerst kam mein Vater, am 12. Juli 1945. Er erhielt eine Genehmigung, hier ein Unternehmen zu betreiben. Meine Mutter kam dann 1946 und die beiden heirateten 1950. Ich wurde im Jahr 1951 geboren. Mein Vater war jung. Damals wurden die Leute ermutigt, nach Westen zu gehen. Wenn man Unternehmungslust hatte, ging man da hin. Also kam mein Vater nach Szczecin, und sie wiesen ihm gleich Räume zu, die es hier gab. Alles stand leer, also konnte mein Vater nehmen, was er wollte. Dann haben sie es ihm weggenommen, weil es kein Eigentumsrecht gab. Aus Posen kamen viele Leute, die meisten aus Großpolen. Viele Menschen kamen auch aus Vilnius hierher, weil Vilnius von der Sowjetunion übernommen wurde. Hier in Szczecin hatte jeder etwas zu tun, die Trümmer mussten geräumt werden. Das waren schwere Zeiten für unsere Eltern. Mein Vater war von Beruf eigentlich Bankier in Poznań und hatte mit Elektrizität gar nichts zu tun. Jetzt gab es hier Lebensmittelmarken und sonst nichts. Eine Schüssel Suppe und sonst nichts. Ein Bankier wurde hier überhaupt nicht gebraucht. Also gründete mein Vater dieses Unternehmen, aber es war sehr schwierig für ihn. Der Vater hatte keine handwerklichen Fähigkeiten, nicht jeder kann alles, aber dafür konnte er perfekt Deutsch, Griechisch, Latein und Mathematik. Im Allgemeinen liebe ich diese Arbeit. Sie beruhigt mich. Jeder Tag ist anders, jede Lampe ist anders. Ich mag die Region. Ich bin von hier. Wie kann man seine Heimat nicht mögen?