Anfang des 20. Jahrhunderts wird das untere Odertal massiv umgebaut. Noch bis ins 19. Jahrhundert hatte sich die Oder in Windungen, Schleifen und erzweigungen, sogenannten Mäandern, weitgehend naturbelassen ihren eigenen Weg durch das Tal gesucht. Ab 1906 werden hier nun viele Kanäle, Deiche und Schleusen gebaut, um den Lauf der Oder neu zu formen. Besonders die alljährlich gefluteten Polderflächen prägen seitdem die einzigartige Auenlandschaft und ihre Natur. Dieses riesige Wasserbauprojekt macht schon damals deutlich: Wichtige Aspekte des Lebens am Fluss – wie Hochwasserschutz, Landwirtschaft, Schiffsverkehr und Natur – sind eng miteinander verbunden. Und bis heute gilt: Mit den Menschen kommen auch viele unterschiedliche Interessen am Fluss zusammen.
Bereits im 18. Jahrhundert wird die Oder zunehmend begradigt, beschleunigt und durch Deiche begrenzt. Die damit steigende Gefahr von Rückstau und Überflutung wird jedoch zum Problem. Deshalb beschließt der Preußische Landtag 1904 mit dem Gesetz zur Verbesserung der Vorflut den Umbau der Oder im unteren Odertal. Bis 1928 entstehen in diesem Projekt 177 Kilometer Deiche, 25 Schleusen, 28 Brückenbauten und 129 wassertechnische Bauwerke. Anstatt auf das Hochwasser einfach nur mit immer höheren Deichen zu reagieren, baut man hier nach holländischem Vorbild ein Poldersystem, in dem sich das Wasser kontrolliert ausbreiten kann. Gleichzeitig werden Altarme der Oder zu einem Schifffahrtskanal für größere Schiffe verbunden und ausgebaut. Über den neuen Großschifffahrtsweg können Dampfer ab 1914 von hier sogar bis nach Berlin fahren.
Polder sind eingedeichte Flächen in der Nähe eines Gewässers. Man unterscheidet zwischen Trockenpoldern und Flutungspoldern. Im unteren Odertal dienen die Flutungspolder als „Pufferfläche“ zur Regulierung des Wasserstands der Oder: Der Fluss kann sich über mehrere Monate in die Überflutungsflächen der Polder ausbreiten. Hierfür werden zu Beginn des Winterhalbjahres Ein- und Auslassbauwerke im Deich geöffnet und im Frühjahr wieder geschlossen. Die Regulation des Wasserstands über die Polder ermöglicht eine halbjährliche Landwirtschaft.
Auch das Leben der Menschen am Fluss verändert sich. Zur Zeit des Oderumbaus sind landwirtschaftlich nutzbare Flächen knapp. Ist das Wasser der Flutungspolderflächen aber abgeflossen, lassen sich diese im Sommer als Heuwiesen nutzen. Der Fluss sorgt mit der jährlichen Überflutung durch angeschwemmte Nährstoffe für die Düngung des Grünlandes. Durch den umgeformten Stromverlauf liegt eine Wiese plötzlich auf der anderen Seite des Flusses. Für den Abtransport der Heuernte werden neue Brücken errichtet oder Heukähne eingesetzt. Auch der Tourismus entwickelt sich seit dem 19. Jahrhundert: Stadtbewohner finden in der Landschaft des unteren Odertals Erholung. Durch den Schifffahrtskanal und den damit zusammenhängenden Großschifffahrtsweg Berlin-Stettin (Szczecin) wird die Gegend besser erreichbar. Beliebte Ziele sind beispielsweise das Waldgebiet Gartzer Schrey mit den Ausflugslokalen Fernsicht und Forsthaus und das Tal der Liebe bei Zatoń Dolna (Niedersaathen).
Im Sommer 1997 lassen starke Regenfälle die Wassermenge in der Oder extrem ansteigen. Der Fluss tritt über die Ufer, Deiche brechen. In Tschechien, Polen und Deutschland werden ganze Landstriche überschwemmt, das Wasser richtet vielerorts schwere Schäden an, fordert zahlreiche Opfer. Die Öffnung der Polder im unteren Odertal, die große Wassermengen der Flutwelle aufnehmen, verhindert Schlimmeres. Auf tragische Weise erinnert das Oderhochwasser daran, dass der Fluss durch seine gewaltige Kraft auch lebensbedrohlich sein kann. Seit dem Umbau der Oder im unteren Odertal bis in die Gegenwart hinein stellt sich die Frage: Was heißt es, am und mit dem Fluss zu leben? Für die Menschen hat er viele Bedeutungen: Natur, Grenze, Transportweg, Fischgrund, Erholung – zugleich potenzielle Gefahr durch drohendes Hochwasser. Wie lässt sich all dies miteinander verbinden?